Rubinrot - 6

2. Jan. 2025

Gedanken an dich

Unwillkürlich denke ich an Ruby. Ruby, für die ich nicht genug getan habe. Ruby, die ich hängen gelassen habe. Ruby, der ich einen Brief geschrieben habe. Es dreht komplett durch in mir. Nicht nur in meinem Brustkorb, sondern auch in meinem Verstand. Ein Jahr lang habe ich so getan, als hätte ich sie vergessen und nun ist sie da. Präsenter denn je, obwohl sie mir so fern ist und fern bleiben sollte.

Ja, ich habe den Brief in der Absicht, ihr diesen irgendwann geben zu können, aufbewahrt und nicht wie so vieles andere verworfen oder weggeworfen. Doch wenn ich das tue, ihr den Brief geben, weiß ich, wo ich landen werde, und zwar nicht auf der Parkbank, auf die ich gerade so zielsicher zusteuere.

Ich glaube, auf dieser Welt gibt es viele Ungerechtigkeiten und ihr fernzubleiben ist nur eine davon.

Lange werde ich es auf dem Friedhof nicht aushalten. Es ist ein Platz, an dem die Toten ruhen und eigentlich weiß ich es besser, denn nur ein Teil von uns wird hier ruhen, der andere ist ganz woanders untergebracht, an einem Ort, an dem ich schon einmal gewesen bin.

Ich hole mein Notizbuch heraus und fange wie früher an, einfach zu zeichnen. Zeichnen hilft die Dämonen fernzuhalten oder wie Dr. Walrus meint, sie erst recht heraufzubeschwören. Doch sie bleiben auf dem Papier. Sind dort gefangen und können mir nichts tun. Naja, zumindest nicht im wesentliche Sinne etwas antun. Schabernack mit meinen Gedanken treiben können sie schon.  Oder um es in Poes Worten auszudrücken: „Aber das tun sie ständig und immerzu, sie lassen uns niemals in Ruh.“

Ich fange an mit einem harmlosen Strich. Führe die Linien weiter, bis daraus ein Menschlein entsteht. Das bin ich. Vor so vielen Jahren, als ich mit Poe und Max draußen im „verbotenen“ Viertel Fußball gespielt haben. Wir haben es das „verbotene“ Viertel genannt, weil Max dort wohnt und seine Eltern streng sind. Sehr streng. So streng, dass Max eigentlich gar nicht hätte mit uns befreundet sein dürfen, weil seine Eltern niemanden tolerieren, der ihren Sohn von seinen Pflichten ablenken könnte, geschweige denn nicht die gleichen religiösen Ansichten wie sie teilt. Beides traf auf Poe und mich zu. Dennoch hat es uns nicht davon abgehalten, Max hin und wieder aus seinem elterlichen Gefängnis herauszulocken und ihn zu bitten, mit uns abzuhängen. Heimlich versteht sich, obwohl sie uns oft genug zusammen erwischt haben. Aber wir sind Kinder gewesen, unbelehrbar, ein wenig rebellisch und cool. Zumindest in unseren Köpfen haben wir gedacht, dass wir cool sind. Ein bisschen schräg, aber halt eben cool. Max war cool….

Ihn zu zeichnen, tut ganz besonders weh - mit seinen knallroten Haaren, den Sommersprossen im Gesicht und der blauen Latzhose, die er immer getragen hat. Er ist der Erste, der damals gegangen ist. Weggezogen nach diesem einen Vorfall, der eines Tages beim Fußball spielen passiert ist und nicht hätte passieren sollen.

Viel weiß ich nicht mehr davon. Schließlich bin ich der gewesen, der danach im Krankenhaus aufgewacht ist. Nicht wie heute weil man mich für verrückt gehalten hat. Nein. Eher, weil man Kopf eine Kugel gefressen hat. Eine Kugel, die von jemandem abgefeuert worden ist, über den ich nicht reden darf, den ich aber zeichnen kann. Keine Ahnung, wie oft ich diesen Mann bereits gezeichnet habe. Unzählige Male und auch diesmal spüre ich den stechenden Schmerz über meinem rechten Ohr, als ich den Stift ansetze und dieses Monster zu Blatt Papier bringe. Rundes Gesicht, runzelige Haut. Sommersprossen. Rote krause Haare. Ein Bart, der nicht schön gewachsen ist. Massive Schultern. Ein zu enger Gürtel. Stiefel. Die Mündung der Knarre, die auf mich gerichtet ist. Gesehen habe ich sie nie, aber in meiner Vorstellung muss es genau so ausgesehen haben, als er auf mich geschossen hat. Strenger, von Wut getränkter Blick. Lippen, so mal wie ein Spalt. Jede Faser seines Körpers zum Bersten angespannt.

Und wie ich jetzt, muss dieser Mann geschwitzt haben. Gehofft haben. Gebangt haben, dass ein einziger Schuss reicht, um seinen Willen durchzusetzen. Plottwist, es hat nicht gereicht, denn sonst wäre die Geschichte, der Comic, an dieser Stelle bereits vorbei gewesen und all das, was danach passiert und gefolgt ist, hätte niemals so stattgefunden. Vielleicht würde dann Poe noch leben und an seiner Stelle würde nun für mich hier auf diesem Friedhof ein Grabstein stehen. Einer, der tatsächlich unter sich Überreste birgt, um dessen Verschiedenen man trauern könnte. Und wahrscheinlich wäre das besser gewesen. Ja. Es wäre besser gewesen, wenn ich dort liegen würde und dein Name auf diesem hässlichen Ding stehen würde. Es tut mir leid, mein Freund. Wo auch immer du gerade bist.