ROADKILL ANGEL

kontroverse Geschichten 16. Dez. 2024

Manchmal frage ich mich, warum ich es für eine gute Idee gehalten habe, auf dem Land zu wohnen und in der Stadt zu arbeiten. Der Arbeitsweg ist einfach lang. Viel zu lang, besonders dann, wenn man unfreiwillig Überstunden schiebt, todmüde und die Sonne längst untergegangen ist. Wahrscheinlich tue ich mir das an, weil ich die Ruhe auf dem Land so sehr liebe und auch irgendwie brauche - da drückt man bei der Stunde Autofahrt schon einmal ein Auge zu und wer weiss, vielleicht habe ich Glück und auch bei meinem Job wird Homeoffice irgendwann eine Option. Praktisch wäre es ja ohnehin und umsetzbar auch, aktuell scheint es wohl nur eine Kostenfrage zu sein. Was mich schmerzhaft daran erinnert, dass die Benzinpreise mir, sollten sie weiter so steigen, bald das Genick brechen werden und ich mir entweder einen neuen Job oder einen neuen Wohnort suchen muss. Oder ich mache es wie andere in meinem Alter und lege mir einen Onlyfans Account zu.

Seufzend drehe ich den Autoschlüssel um und starte, anstelle einer Karriere als Erotikdarstellerin, den Motor. Es ist bereits 22 Uhr, stockdunkel und eigentlich lohnt es sich gar nicht mehr, um die Zeit nach Hause zu fahren - schließlich muss ich um 6 Uhr morgens schon wieder aus dem Bett und mich fertigmachen für die Arbeit. Okay. Ich muss wirklich aufhören mit diesen Überstunden. Die tun mir nicht gut. Die Müdigkeit kitzelt in meinen Augenwinkeln, die Konzentration ist dahin und meiner Laune gehen die zusätzlichen Stunden sowas von an den Kragen. Die ist nämlich schlecht. Ultimativ schlecht und sie wird leider auch nicht besser, als ich auf die Autobahn abbiege und meine Lieblingsmusik aus dem Radio sprudelt. Heute schafft es wohl nicht einmal meine Playlist mich aufzuheitern. Immerhin sind die Straßen um die Uhrzeit wie leer gefegt - so muss man sich schon nicht über andere Autofahrer aufregen, das ist aber nur ein kleiner Trost, denn leider sorgt das Fernbleiben von Verkehr unter anderem dazu, dass meine Augen nicht wach bleiben wollen. Die Lider werden allmählich ganz schön schwer, als hätte jemand heimlich kleine Betonklötzchen an meine Wimpern geheftet und ich ertappe mich mindestens zweimal dabei, wie ich kurz davor bin, einfach hinter dem Lenkrad wegzuknicken. Sekundenschlaf. Etwas, woran ich nun schon länger leide und weil das Problem für mich nicht unbekannt ist, habe ich so meine Tricks, um trotzdem irgendwie sicher ans Ziel zu kommen.

Der erste Trick ist: von der Autobahn runterzufahren und die Landstraße zu nehmen. Warum ich das tue? Nun ja, man ist mit weniger Kmh unterwegs und weniger potentiellen Gefahren ausgesetzt. Dazu die Landschaft, die ein bisschen für Abwechslung sorgt, na gut, zwar nicht um diese Uhrzeit, aber sollte ich wirklich hinter dem Steuer einschlafen, wäre es mir dann doch lieber, irgendwo in eine Wiese hinaus zu brettern, als auf der Autobahn womöglich in die Gegenfahrbahn abzudriften und irgendwo voll Karacho gegen zu knallen.

Der zweite Trick besteht darin, meinen BH auszuziehen. Ich bin ziemlich empfindlich und gerade wenn man müde ist, können Baumwollstoff und Sicherheitsgurt zu sehr guten Liebhabern werden. Um das Ganze noch ein wenig mehr auszureizen, kommt Trick Nummer drei zum Einsatz. Das Fenster leicht runterkurbeln für kühle Luft im Auto. Und Trick Nummer vier - die leere Wasserflasche, die immer griffbereit im Getränkehalter steht, zweckzuentfremden und… gerade als ich die Flasche zwischen meine Beine pressen will, nehme ich einen Schatten im Augenwinkel wahr. Ich drücke auf die Bremsen und lege eine Notbremse hin. Doch es ist bereits zu spät und was auch immer ich kurz wahrgenommen habe, landet auf meiner Motorhaube und wenig später unter den Rädern. Okay. Scheisse. Scheisse. Jetzt bin ich zwar wach, verdammt wach, und mir geht sowas von die Pumpe, aber was zur Hölle habe ich da gerade angefahren?! Da war doch nichts, als ich… Mein Blick fällt auf die Flasche, die von meiner Hand in den Fußraum gefunden hat. Ich verfluche mich. Ich hasse mich und die blöde Flasche und überhaupt…
Ich traue mich gar nicht, aus dem Auto auszusteigen und nachzusehen, was ich da soeben rücksichtslos überfahren habe. Der Aufprall war nicht ohne. Und es muss groß gewesen sein. Sehr groß. Vielleicht ein Reh. Oh Gott, bitte lass es ein Reh sein. Oder ein Fuchs. Von mir aus auch ein Wildschwein, aber bitte, lass es keinen Menschen gewesen sein. Bitte. Das ist so surreal. Das kann mir doch nicht wirklich passiert sein?!

Ich weiss nicht, wie lange ich nur da sitze und aus der Windschutzscheibe auf die Strasse vor mir starre. Gefühlt eine ganze Ewigkeit. Und als würde mich ein höheres Wesen abgrundtief hassen, fängt es in diesem Moment auch noch an zu regnen. Wirklich? Muss das sein? Verdammt. Ja. Es muss. Ich muss aussteigen. Ich muss helfen. Ich muss den Notarzt rufen. Die Polizei. Egal was, aber ich muss etwas tun. Ich kann nicht einfach hier sitzen, Däumchen drehen und losfahren und Fahrerflucht begehen schon mal gar nicht. Das liegt nicht drin. Sowas könnte ich mir niemals verzeihen.

Irgendwann schaffe ich es tatsächlich, die Tür meines Autos zu öffnen und auszusteigen. Doch statt wie ein Superheld, wem oder was auch immer, zur Hilfe zu eilen, übergebe ich mich erstmal ausgiebig auf die Straße. Zusätzlich zu dem Kotzebrei aus meinem Mund ist mir auch noch schwindelig. Meine Beine sind weich. Die Welt dreht sich und alles, was ich einmal im Nothelferkurs gelernt habe, ist wie aus meinem Kopf gefegt. Da herrscht nur Leere und vermutlich ein Schädelhirntrauma oder sowas in der Art. Dabei wäre es jetzt echt hilfreich, das 1 x 1 des Verkehrsunfalls abrufen zu können.

Ein klägliches Stöhnen holt mich mit einem Schlag aus meinem Selbstmitleid heraus. Okay. Scheisse. Ich habe wirklich einen Menschen angefahren. Der wie frisch angerührte Fluchtinstinkt will mich zurück in mein Auto treiben und rät mir, mich schleunigst aus dem Staub zu machen, aber mein Gewissen reißt das Ruder in allerletzter Sekunde um. Statt wie ein feiges Huhn das Weite zu suchen, findet meine Hand in meine Hosentasche hinein. Ich zücke mein Handy hervor, um den Notruf zu tätigen, halte aber prompt inne, als mein Blick auf den Boden zu meinen Füssen fällt. Ich schlucke und schlucke nochmals. Weisse Federn. Sind da tatsächlich weisse Federn auf dem Asphalt? Ich bücke mich, will wie auf Autopilot danach greifen..
Wieder erklingt ein Stöhnen und die Kombination aus Stöhnen und Federn jagt mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Irgendetwas stimmt hier nicht, so ganz und gar nicht, es sei denn, ich habe einen flüchtigen Hühnerdieb niedergefahren. Aka einen Typen, der mit einem überdimensional großen Huhn über die Straße gerannt ist. Das ergibt doch keinen Sinn. Mit zittrigen Fingern aktiviere ich die Taschenlampe meines Handys und leuchte in die Dunkelheit hinein.

Mein Herz bleibt stehen. Meine Augen kugeln aus ihren Höhlen und mein Mund steht so sperrangelweit offen, dass ein Flugzeug ohne Probleme darin hätte landen können. Vor mir auf dem Asphalt und hinter meinem Auto entdecke ich das, was ich überfahren habe und will meinen Augen kein Vertrauen schenken. Okay. Ich habe wirklich ein Schädelhirntrauma. Oder Schlimmeres. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, ich bin sturzbesoffen oder habe mir irgendwas eingeworfen, was üble Halluzinationen hervorruft. Ganz üble Halluzinationen.

Meine erste Reaktion wäre Lachen, laut, aus vollster Kehle, stattdessen löst sich ein gellender Schrei, als das Ding, was ich überrollt habe, anfängt, sich zu bewegen. Und kurz darauf nochmals ein schmerzhaftes Stöhnen von sich gibt. Scheisse. Das Ding lebt. Noch. Ich beiße mir aus purer Verzweiflung in den Handballen hinein und sehe mich um. Einmal links. Einmal rechts, doch weit und breit kein anderes Auto in Sicht. Die Straße ist wie leergefegt, verlassen und mitten im Nirgendwo, dort wo sich Fuchs und Hase die Hand geben.

Mein Blick fällt wieder auf mein Handy, das durch den Regen ganz nass geworden ist. Mist. Das ist nicht wasserdicht, und als wäre das aktuell mein größtes Problem, schüttele ich mein Handy in der Luft herum, in der bizarren Hoffnung es im Regen trocken irgendwie schütteln zu können und heule dazu auch noch los wie eine Seemöwe über dem Atlantik. Okay. Nun drehe ich durch. Völlig durch.

„Bitte… ich muss…“, die tiefe, männliche und äußerst menschliche Stimme katapultiert mich aus meinem Wahnsinn heraus und auf die Straße zurück. Ich schlucke. Und schlucke wieder, ehe ich zögerlich einen Schritt vorwärts und auf das… Ding zu mache, was so halb unter meinem Autos liegt. Ich starre auf die vielen weißen Federn. Auf das Blut. Und auf den jungen Mann, der sich schmerzhaft hin und her windet.

“Bist du ein Engel?”, platzt es unverhohlen aus mir heraus. Kaum haben die Worte meinen Mund verlassen, bereue ich sie schon wieder. Es gibt keine Engel, Kiana. Wahrscheinlich kommt der Typ von irgendeiner Convention oder Kostümparty und war auf dem Weg nach Hause, bevor du ihn schamlos nieder gebrettert hast, weil du es dir mit einer Flasche besorgen wolltest. Haha. Ja, genau. Der Typ ist bestimmt Cosplayer und es gibt bestimmt einen guten Grund, warum er mitten in der Nacht verloren in der Pampa herumläuft und unter deinen Rädern landet. Bestimmt. Ja…

“Ich muss…”, keucht es unter meinem Auto hervor. “Nach Hause, bitte…”

Ich bin gewillt zu fragen, wo er denn wohne, in der Hoffnung, nicht “Himmel” als Antwort auf die Frage zu hören. Blödes Schädelhirntrauma. Stattdessen reisse ich mich endlich am Riemen und tue das, was normale Menschen tun. Ich schalte die Taschenlampe meines Handys an und sehe mir das volle Ausmass meiner Tat etwas genauer an. Ein weiterer Schrei kämpft sich aus mir heraus.

Die Flügel sind echt und die weißen Schwingen kommen wirklich aus dem Rücken dieses Kerls heraus, der hilflos auf dem Boden liegt und mich mit seinen hellen Augen ansieht. Dann streckt er auch noch seine Hand in den Strahl der Taschenlampe hinein, um sich vor dem Licht abzuschirmen und in der Dunkelheit zu verschwinden.
“Hilf mir”, drängt er mich, diesmal klingt seine Stimme nicht schwach, sondern fordernd und als hätte er mir mit diesem Aufruf eine imaginäre Ohrfeige verpasst, setzt sich mein Körper in Bewegung.

Ich komme erst so richtig wieder zu mir, als ich zitternd wie Espenlaub vor dem Engel stehe und er meine Wangen in seinen warmen Händen hält. Sein Blick ist eindringlich und die hellblauen Augen strahlend wie Kristalle.
“Bring mich nach Hause”, fleht er. “Bitte, bring mich nach Hause”, wiederholt er, als ich ihn weiterhin wortlos anstarre, als könnte ich mich nicht an ihm sattsehen. Und da ist tatsächlich etwas dran. Dieser Mann ist unglaublich. Die dunklen Haare hängen ihm nass ins Gesicht. Er ist groß. Erstaunlich gut aussehend trotz der Blessuren, die er vom Crash davongetragen hat und zu allem Überfluss trägt er kein Oberteil und da ragen immer noch diese weißen Engelsflügel aus seinem Rücken, wovon der linke etwas demoliert aussieht. Und ja, die riesigen Schwingen ziehen mich völlig in ihren Bann. Sie sind so surreal, dass ich baff bin, dass sie real sein müssen. Schließlich sind sie zum Greifen nah. Scheisse, habe ich wirklich einen verdammten Engel niedergefahren?

“Du bist ein Engel”, piepse ich aus meinem Mund heraus, der noch immer weit offen steht. Der Engel schüttelt den Kopf. “Du bist nicht ganz bei Sinnen”, sagt er. Vermutlich hat er recht, aber andererseits.. da steht ein verdammter Engel vor mir, da ist es doch total verständlich, dass ich durchdrehe, Stuss von mir gebe und komplett Plemplem bin.

“Kannst du mich fahren?”, fragt er und ich nicke, dann sage ich sowas wie “überall hin” und füge ein “dort steht mein Auto” hinzu, inklusive Hand ausstrecken und damit auf mein verbeultes Auto zeigen. Der Engel schüttelt wieder den Kopf und drückt mein Gesicht fester zwischen seine Handflächen.
“Wie heißt du?”, erkundigt der Engel sich bei mir.

“Kiana”, antworte ich und hänge wie automatisch ein “Und du?” hinten dran.

“Yuri”, erwidert er. “Das, was ich jetzt tue, tut mir leid, aber es muss sein” - mit diesen Worten verpasst mir der Engel eine und die Schelle zeigt Wirkung, aber erst, nachdem die Sternchen, die vor meinem Gesicht tanzen, aus dem Himmel fallen und ich wieder klar sehen kann. Ich meine, die Flügel sind immer noch da, ja, und das ist schräg, aber andererseits erkenne ich nun auch das Blut, das dem Engel über die Schläfe läuft und auf eine Kopfverletzung hindeutet. Und mit denen ist nicht zu spassen. Die Frage ist nur, können Kopfverletzungen auch Engel etwas anhaben?

“Kiana”, höre ich die Stimme des Engel nun eindringlicher. Die kristallenen Augen machen mich kirre. Und natürlich die Schwingen. Und der nackte Oberkörper. Eigentlich seine ganze Erscheinung. Träume ich etwa? Und wenn ja, was ist das für ein Traum? Albtraum oder…

“Du musst mich nach Hause fahren, hörst du?”, unterbricht der Engel meinen inneren Monolog.

“Wo wohnst du denn?”, erwidere ich völlig neben der Spur, so wie mein Auto.
“Ich zeige dir den Weg.”

“Okay”, sage ich, dann fällt mein Blick wieder auf die Engelsflügel. “Passt du überhaupt mit denen in mein Auto hinein?”, ergänze ich mehr für mich selbst als für ihn. Der Engel schüttelt den Kopf und ich will den Mund schon öffnen, um etwas von mir zu geben, doch er legt mir einen Finger auf die Lippen.
“Ich bin alles andere als ein Engel, aber ich muss nach Hause, meine Zeit läuft ab”, gibt der Engel von sich und klingt dabei irgendwie traurig. Ich will schon fragen, warum seine Zeit abläuft, da fährt der Lichtblitz wie automatisch in mich ein.
“Scheisse ja, sollten wir nicht eher einen Krankenwagen rufen? Oder nein, ich fahr dich ins Krankenhaus”, beschließe ich und will schon loslaufen, um meinen Plan in die Tat umzusetzen, da hält mich der Engel fest.

“Ich brauche keinen Arzt, ich brauche deine Hilfe.”

Wahrscheinlich hat sich mein gesunder Menschenverstand schon aus dem Staub gemacht, als ich dem Engel die Tür meines Wagens öffne und zusehe, wie die riesigen Schwingen mitsamt Mann in einem kleinen Auto verschwinden, selbst der demolierte Flügel findet Platz, besser gesagt verschwindet in dem Polster des Sitzes, als wäre er plötzlich nicht mehr stofflich sondern das Gegenteil davon. Mein Schädelhirntrauma-Hirn hat sichtlich mühe, das Gesehene zu verarbeiten. Mein linkes Augenlid zwickt und mein ganzer Körper kribbelt, als stünde er unter Strom.

Trotzdem pflanze ich mich hinters Lenkrad und starre wenig später aus der Windschutzscheibe. Kein einziger Riss im Glas, nur Regen, der unaufhörlich herunter prasselt. Wie mechanisch starte ich den Motor und manövriere mein Auto wieder auf die richtige Bahn. Ich fahre gerade aus, doch es fällt mir deutlich schwer, mich auf die Strasse vor mir zu konzentrieren und nicht auf den Engel neben mir, der blutet und schwer atmet und dabei auch noch auf natürliche Art und Weise verdammt gut aussieht. Vielleicht liegt es an den Flügeln, die transparent durch den Sitz hindurch schimmern und sich im Kofferraum ausbreiten. Oder daran, dass der Mann, Engel, Yuri, was auch immer, herrlich duftet. Irgendwie nach einer Mischung aus… Ich kann es nicht ganz deuten. Rauchig und dennoch süß.

“Die nächste Links”, stöhnt mein Engel, der eigentlich nicht MEIN Engel ist. Obwohl er echt himmlisch aussieht. Oh Gott, ich sollte wirklich aufhören, von dem Mann neben mir zu fantasieren oder generell zu fantasieren, mal davon abgesehen, dass ich ihn nur deshalb angefahren habe. Weil meine Gedanken in der Horizontalen waren, statt auf den Verkehr gerichtet. Wow. Horizontalen? Verkehr? Kiana, du bist schlimm. Du bist ein ganz schlimmes Mädchen und du hast ab sofort Flaschenverbot im Auto. Hörst du? Ich linse einmal vorsichtig in den Fussraum hinunter zu der Flasche und verfluche mich für meine Dummheit, Naivität und Notgeilheit, denn gerade in dem Augenblick, als mein Blick abschweift, hustet der Engel los. Ertappt drücke ich wie automatisch und abrupt auf die Bremse, was dafür sorgt, dass der Engel sich verschluckt und wenig später Blut auf seine Handflächen spuckt.

“Sicher, dass wir nicht zu einem Krankenhaus fahren sollen?”, frage ich zaghaft, während ich das Tempo drossele und den Engel dabei ansehe. Er sieht müde und abgekämpft aus und zum ersten Mal, seit ich ihm begegnet bin, kommt etwas zum Vorschein an ihm, was so ganz und gar nicht engelshaft ist. Wahrscheinlich ist es mir vorher einfach nicht aufgefallen, aber jetzt dafür umso mehr, als meine Augen an dem schon fast dämonisch wirkenden Totenschädel haften bleiben. Offenbar fällt ihm direkt auf, was ich soeben ins Visier gefasst habe, denn seine blutverschmierte Hand bedeckt die Stelle sofort.
“Ich habe dir doch gesagt, dass ich kein Engel bin”, knurrt der Engel los, der kein Engel sein soll.

“Warum siehst du dann aus wie einer?”, hake ich nach. “Ich meine, du hast Flügel und so.”
Der Engel lacht laut auf. “Siehst du etwa auch einen Heiligenschein oder was?”
“Nein”, gebe ich zu und schiele missmutig zu dem Haaransatz hinauf. Nein. Definitiv kein Heiligenschein über seinem Kopf.

“Siehst du, kein Engel, ich bin einfach nur Yuri”, meint Yuri.
“Yuri mit Engelsflügeln”, murmle ich vor mich hin, widme mich dem Gaspedal und richte meinen Blick wieder auf die Strasse, die nach wie vor wie leergefegt ist. Schweigen bricht zwischen uns aus, während ich stumpfsinnig geradeaus fahre, nachdem ich wie angeordnet links abgebogen bin.

Mit dem Schweigen kehren auch tausend und abertausend Fragen ein und machen es sich in meinem vom Schädelhirntrauma vernebelten Verstand gemütlich. Fragen wie “was zum Teufel tue ich hier” oder “Was zum Teufel tut er eigentlich hier?”, aber meine Lippen sind wie versiegelt. Als hätte sie Yuri mit einem imaginären Tacker zu getackert, damit er in Ruhe neben mir die Augen schließen und ein kleines Nickerchen halten kann. Wobei ich nicht wirklich davon ausgehe, dass er schläft. Dafür hebt und senkt sich seine Brust zu stark. Vielmehr leidet der Mann, Engel, Schmerzen, was es für mich nur noch unlogischer macht, nicht zu einem Krankenhaus zu fahren oder die Rettung zu rufen.

Am Ende ist es Yuri, der die Stille durchbricht. Erst mit einem Hustenanfall, dann räuspert er sich und wenig später spüre ich seine Hand auf meiner Schulter, was mich zusammenzucken lässt. Weil es komisch ist, dass er mich anfasst und noch komischer, dass die Berührung kalt ist und sich so anfühlt, als würde seine Handfläche einfach so durch mich hindurch gleiten. Von wegen kein Engel. Da ist doch etwas faul. Entweder das, oder ich..

“Danke”, unterbricht Yuri meinen Gedankengang und seufzt dabei leise auf. “Danke, dass du mich nach Hause fährst.”

“Kein Ding”, sage ich, als hätte ich eine andere Wahl. Gut, genau genommen habe ich eine Wahl, doch irgendwie habe ich das Gefühl, diese nicht zu haben. Keine Ahnung wieso.

“Ich bin schon so lange nicht mehr zuhause gewesen”, fährt Yuri fort und zieht seine Hand zurück. Der Mann neben mir wirkt betrübt, beinahe so, als hätte er Heimweh. Starkes Heimweh. Sein Kopf ist leicht gesenkt, der Mund etwas geöffnet, der Blick ins Leere gerichtet.

“Warst du im Ausland unterwegs?”, frage ich plump und entlocke Yuri mit der Frage ein gequältes Auflachen.

“Könnte man so sagen”, erwidert er trocken.
Ich will über meine Schulter blicken und den Mann mustern, in der Hoffnung, dadurch etwas über ihn herausfinden zu können, stattdessen kleben meine Augen auf der Straße.
“Wo warst du denn?”, platzt es unverhohlen aus mir heraus.

“Ich war an einem sehr schlimmen Ort, doch das ist jetzt vorbei. Ich will einfach nur noch nach Hause. Mehr will ich nicht”, Yuri neben mir beginnt zu weinen. Ich sehe es nicht, aber ich höre es, wenn auch nur leise. Ein Schluchzen, das so klingt, als würde gerade irgendetwas in dem Mann zerbrechen. Und wieder einmal mehr reihen sich die Fragen in meinem Kopf zu einer Endlosschleife an Fragezeichen auf. Es muss etwas passiert sein. An diesem Ort. Und weil ich eine dumme Pute bin, muss ich natürlich direkt an die Hölle denken. An das Fegefeuer und plötzlich kann ich nicht anders, als diesen Mann doch für einen Engel zu halten. Die Flügel. Der schlimme Ort. Wie er aus dem Nichts auf der Straße aufgetaucht ist und all die anderen Merkwürdigkeiten. Wäre da nicht dieses Tattoo an seinem Hals oder die Tatsache, dass der Mann selbst sagt, er sei kein Engel.

“Was ist denn an diesem Ort passiert?”, hake ich vorsichtig nach und merke, ohne hinzusehen, dass sich Yuri auf dem Beifahrersitz versteift. Eine Antwort jedoch bleibt er mir schuldig. Tatsächlich wechseln wir kein Wort mehr miteinander bis Yuri von seinem Platz hochschreckt, als wir an einem Ortsschild vorbeifahren.

„Hier… hier wohne ich“, dringt es aus ihm heraus. Wieder spüre ich seine Hand auf meiner Schulter und wie sich seine Finger verkrampfen und wieder ist dort diese unnatürliche Kälte, die mich diesmal zum Schaudern bringt.

„Hier wohnst du“, echoe ich und erkenne nicht viel in der Dunkelheit bis auf ein paar Straßenlaternen, die an uns vorbeiziehen. Wir fahren bis zum Dorfende und vor dem letzten Haus an der Straße bittet mich Yuri anzuhalten. Was ich auch tue. Kaum ist der Motor aus, packt mich Yuri und zieht mich an sich ran. „Du hast mich nach Hause gebracht“, schluchzt er in mein Ohr. Sein ganzer Körper zittert wie ein Zitteraal.

Ich will wieder sowas sagen wie „Kein Ding, habe ich doch gern gemacht“, doch etwas lässt mich innehalten. Die Feder, die an meiner Nase kitzelt. Der Geruch von Blut und dieses flaue Gefühl, was sich daraufhin in meinem Bauch ausbreitet.

„Yuri“, flüstere ich und drücke den Mann ein wenig von mir weg. „Bist du dir sicher, dass du kein Engel bist?“, versuche ich es ein letztes Mal. Yuri‘s helle Augen sehen mich an und obwohl in seinem Blick die Traurigkeit innewohnt, schiebt sich der linke Mundwinkel zu einem zaghaften Lächeln hinauf.

„Einfach nur Yuri“, erwidert Yuri und streift mir eine nasse und lose Haarsträhne aus meinem Gesicht. „Danke, Kiana.“

Wir sehen uns noch lange so an. Dann zieht sich Yuri zurück und blickt statt auszusteigen aus dem Fenster zu seiner rechten.

„Der Ort an dem ich war…“, beginnt er leise und presst die Lippen aufeinander, bevor er weiter spricht, als würde er mit sich hadern. „Dort wird die Unschuld aus den Unschuldigen gepresst“, Yuri formt mit seinen Händen eine Bewegung, als würde er jemanden erwürgen wollen. Ich blinzele verwirrt und kann mir keinen Reim darauf bilden.

„Wie meinst du das?“

Yuri sieht mich an. „Ich bin ein schlechter Mensch, Kiana. Doch nun bin ich zuhause. Jetzt wird alles besser.“

„Ich verstehe nicht…“, setze ich an, schüttele den Kopf, starre auf die weißen Schwingen, die aus seinem Rücken ragen. Was zur Hölle meint der Kerl bloß? Und liegt es an meinem Schädelhirntrauma, dass alles, was aus seinem Mund kommt, total schräg für mich klingt?

„Wird Zeit für mich zu gehen“, meint Yuri nur und greift nach der Türklinke. Ich will rübergreifen und ihn aufhalten, doch meine Hand will diesem

Befehl keine Folge leisten. Ich sitze bloß da wie festgefroren und schaue dem Mann, Engel, dabei zu, wie er aus meinem Auto steigt. Ich will ihm auch folgen und hinterherrennen, als er auf das Haus zuläuft, vor dem wir parken, aber auch das gelingt mir nicht. Ich kann nur zusehen, wie der Mann mit den engelhaften Flügeln sich von mir entfernt und irgendwann ist es so, als wäre er nie dagewesen. Als wäre er nie in meinem Auto gewesen und als hätte ich ihn niemals angefahren. So richtig bewusst wird mir das erst, als ich den Rückwärtsgang einlege und mein Fuß das Gaspedal durchdrückt.

Teil 2

Wieder zuhause, lege ich mich nach einer heißen Dusche ins Bett und kurz darauf versinke ich in einem Schlaf, der von komischen Träumen heimgesucht wird. Träume über Engel und Orte, die schlimm sind. Die Träume sind so real, dass ich am nächsten Morgen völlig verunsichert bin, ob ich mir nicht doch die ganze Begegnung mit Yuri nur eingebildet habe. Bis zu dem Moment, als ich mich mit meinem Frühstücksmüsli vor den Fernseher setze und die Nachrichten anschalte. Meine Kinnlade inklusive Frühstück Müsli fällt auf den Boden und ich vor Schock auf das Sofa. Ungläubig stiere ich den Bildschirm meines Fernsehers an und staune nicht schlecht, als die Nachrichtensprecherin von einem Leichenfund berichtet. Ein Mann wurde erdrosselt aus einem See geborgen und sei noch nicht identifiziert worden, stehe aber vermutlich mit einem Verbrechen in Verbindung. Die Polizei suche noch nach Hinweisen. Als ein Foto von Yuri‘s Tattoo am Hals eingeblendet wird, schlucke ich schwer. Wie eine, hinter der der Teufel her ist, sprinte ich nur mit Morgenmantel bekleidet aus meiner Wohnung und nehme die Treppen zur Tiefgarage hinunter. Dort angekommen stürze ich mich wie eine Bekloppte auf mein Auto und nehme es einmal gründlich unter die Lupe. Meine erste Reaktion ist Schreien. Dicht gefolgt von einem Nervenzusammenbruch, der filmreif gewesen wäre und mir eigentlich ein One-Way-Ticket in die Klapse bescheren hätte sollen. Denn das Einzige, was darauf hinweist, dass ich gestern Nacht wirklich einen Engel nieder gebrettert haben könnte, ist die bescheuerte Flasche im Fußraum. Ansonsten ist mein Auto in einem Topzustand. Keine Beule. Keine Delle. Keine Kratzer. Rein gar nichts, was auf einen Crash hinweisen könnte, bei dem ein Engel unter meiner Haube gelandet ist. Nicht im romantischen Sinne. Das ist, als wäre dieser Vorfall auf der Landstraße nie passiert und hätte lediglich in meinem Kopf stattgefunden. Ich kann mir das doch nicht eingebildet haben?!

In meiner Verzweiflung reiße ich die Beifahrertür auf und… schreie wieder los. Diesmal wie am Spieß. Auch dort ist nichts. Kein Blut. Kein süßer, rauchiger Duft. Nicht einmal Matsch oder... Keine Ahnung was. Ich drehe durch. Ich muss durchdrehen. Das ist doch alles vollkommen abstrus.

Ich lasse mich auf den Beifahrersitz plumpsen. Starre geradeaus durch die Windschutzscheibe und kann mir auf das alles keinen Reim bilden. Selbst wenn ich mir die Begegnung mit Yuri nur eingebildet oder erträumt habe, wie kann es dann sein, dass ausgerechnet am nächsten Tag ein Typ aus dem See geborgen wird und dieser das gleiche Tattoo am Hals hat, wie Yuri eins am Hals hatte? Bin ich nun ein Medium oder… was? Mein Blick fällt in den Rückspiegel und Schrei Nummer Drei löst sich aus meiner Kehle. Nicht weil ich dort etwas sehe, nein, vielmehr weil dort nichts ist. Mein Wagen ist sauber, wie die Polizei sagen würde. Keine Anzeichen von Yuri oder einem Engel, der dort etwas hinterlassen haben könnte.

Resigniert steige ich aus meinem Auto aus, nur um wenig später, nachdem ich mich in meiner Wohnung angezogen und fertig gemacht habe, auf der Fahrerseite wieder Platz zu nehmen. Es gibt eigentlich nur eins, was ich jetzt noch tun kann, und zwar zu dieser Adresse zu fahren, wo dieser ominöse Yuri angeblich wohnt oder gewohnt hat. Zu ihm nach Hause fahren, sozusagen. Schon wieder. Ein zweites Mal. Vorausgesetzt ich finde heraus, wo das überhaupt gewesen ist. Doch bevor ich den Schlüssel ins Zündschloss stecke, muss das fiese Ding, was mich in diese Situation gebracht hat, entfernt und für immer aus diesem Auto verbannt werden. Der Ursprung allen Übels. Die Flasche. Ich bücke mich zur Quelle meiner Misere hinunter und hole sie aus dem Fussraum hervor. Kaum berühren meine Finger das PET, durchfährt mich ein Blitz. Kein Oh-ja-geil-Blitz wie sonst, wenn ich auf Tuchfühlung mit dieser Flasche gehe, nein, es ist eine ganz unangenehme Sorte Blitz, die einen in einer Schockstarre zurücklässt und ganz ekelhaft am ganzen Körper kribbelt. Statt dass ich die Flasche wie erwartet leer vorfinde, befindet sich nun etwas in dem durchsichtigen Behälter. “Flaschenpost”, schießt es mir durch den Kopf. Doch wie… hat dieses eingerollte Stück Papier in meine Flasche hinein gefunden?! Oder ist das eine weitere Fatamorgana, die mich heimsucht? Eine billige Illusion, weil mein Gehirn gerade nicht mit der Gesamtsituation klar kommt?
Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Hastig schraube ich die Flasche auf und versuche erst mit einem Finger, dann mit zwei, den blöden Zettel aus der schmalen Öffnung zu bugsieren. Mit wenig Erfolg. Ich muss tatsächlich zurück in meine Wohnung und eine Pinzette zwecksentfremden für dieses schwierige Unterfangen. Mit einem viel zu lauten “Hab ich dich” manövriere ich die mysteriöse weisse Rolle aus ihrem durchsichtigen Gefängnis und halte sie wie eine Siegerehrung eine Armlänge von mir entfernt in die Höhe. Mein Puls rast. Mein Herz galoppiert und mein Verstand macht eine Karussellfahrt der Extraklasse, nach der man erst einmal ordentlich abreiern gehen muss. Mir ist tatsächlich schlecht. So schlecht, dass ich nichts dagegen hätte, meine Frühstücksflocken wieder loszuwerden. Ich reiße mich jedoch zusammen und beschließe, mich erst um das zusammengefaltete, gerollte Problem zu kümmern.

Meine Hände zittern, als ich die Botschaft auseinander friemele und es wird nicht besser, als ich lese, was dort in krakeliger Schrift geschrieben steht.
Wenn ich mich nicht täusche, muss das die Adresse sein, zu der ich den Engel oder Yuri oder die Illusion gefahren habe. Ja. Das muss sie sein!  Doch was mache ich jetzt? Wie eine total Geistesgestörte dorthin fahren und… ja und was? Hoffen Yuri dort anzutreffen? Bei ihm klingeln und auf einen Tee vorbeikommen und über alles reden, wie zum Beispiel die Tatsache, dass jemand mit dem gleichen, seltsamen Hals-Tattoo soeben von der Polizei aus einem See geborgen worden ist!? Vielleicht hat er einen Zwillingsbruder oder dieses Hals-Tattoo ist verbreiteter als man denkt. Ja. Ein Gang-Tattoo oder sowas in der Art. Oder irgendein Trend, der komplett an mir vorbeigegangen ist. Das muss es sein. Haha. Oder jemand hat Yuri, nachdem ich davon gedüst bin, einfach mal eben mit einem Seil um die Ecke gebracht und tauchen geschickt. Was total blödsinnig ist. Wer sollte einen Engel ermorden? Kann man Engel überhaupt töten oder sind die schon tot und warum zur Hölle mache ich mir überhaupt über so etwas Gedanken?! Irgendetwas läuft in meinem Oberstübchen nicht so ganz richtig. Wahrscheinlich habe ich mir wirklich den Kopf zu doll gestoßen und nun Hirnblutungen. Oder Gedächtnisverlust oder generell eine schlimme Form von akutem Hirnschwund. Okay, Kiana. Komm klar, es gibt keine Engel und du hättest den Blödmann einfach zum nächsten Krankenhaus fahren sollen statt irgendwo ins Nirgendwo hinausfahren und…

Ich hole einmal tief Luft. Hilft aber auch nicht wirklich. Der Zettel zwischen meinen Fingern flattert, so stark zittern sie. Wenn ich nicht gleich runterkomme, fliegt der Fetzen Papier noch genauso davon wie Yuri letzte Nacht vor meine Kühlhaube.
Gehen wir davon aus, dass der Typ von letzter Nacht nicht der Typ im See ist und dass es ihm gut geht und er wohlauf ist. Also gibt es keinen Grund zur Sorge und das alles wird sich auch ganz ohne mein Zutun oder meine Hilfe klären. Ich kann so tun, als wäre nie etwas passiert und als hätte ich nicht gerade in meiner Flasche eine ominöse Botschaft gefunden, auf der eine Adresse steht.

Wann hat er überhaupt dieses Zettelchen in meine Flasche gemacht? Wäre mir das nicht aufgefallen? Oder bin ich so neben der Spur gewesen, dass ich das komplett ausgeblendet habe?

Ich muss mich dazu zwingen, meinen Allerwertesten zurück in meine Wohnung zu verfrachten und meinem Frühstücksmüsli eine zweite Chance zu geben. Mein Appetit hat sich komplett aus dem Staub gemacht und das nagende Gefühl unter meiner Schädelrinde macht mich ganz kirre, so kirre, dass ich mich dabei ertappe, wie ich immer und immer wieder die Rückspulfunktion meiner TV-Box aktiviere, um mir das Tattoo nochmal vor Augen zu führen. Es ist identisch. Ja. Es ist eins zu eins das gleiche oder sogar dasselbe Tattoo. Hundertpro. Die Schüssel Müsli segelt zu Boden wie mein gesunder Menschenverstand davon, als ich mein Handy in die Hand nehme und die eingeblendete Telefonnummer in der Flimmerkiste auf meinem Telefon eintippe und sogar dort anrufe. Es dauert ein bisschen, bis jemand rangeht und höchstwahrscheinlich das Standard-Sprüchlein runter brettert, das alle zu hören bekommen, die denken, sie könnten etwas zu dem Fall beitragen. Ich lasse den Menschen ausreden und verfluche mich innerlich, nicht doch auf eigene Faust zur Adresse gefahren zu sein. Nur um zu checken, ob ich noch alle Latten im Zaun habe oder ob ich bereits ein Fall für die Geschlossene bin.
Ich melde mich mit einem zaghaften “Hallo” und überlege noch, ob ich wirklich meinen Namen sagen soll. Wenn ich mich mit diesem Anruf komplett zum Deppen mache, wäre mir lieber, die wissen nicht, wer ich bin. Wobei die Polizei anhand meiner Nummer vermutlich ohnehin herausfindet, wer angerufen hat. Schließlich habe ich vergessen, meine Nummer zu unterdrücken.“Wie kann ich helfen?”, poltert es am anderen Ende der Leitung. Tja. Okay. Wie fange ich das Gespräch jetzt an? Hätte ich mir eventuell vorher überlegen sollen. Toll. Nervös stupse ich mit meinem Zeh die kaputte Müsli-Schüssel auf dem Boden an und ringe um Worte. “Ich… ähhh… “, starte ich wie jemand, dem man eine Pistole an die Schläfe hält.
“Haben Sie einen Hinweis zum aktuell…”, hilft mir der Mann auf die Sprünge und ich platze ihm ungeniert ins Wort.
“Ich habe den Typen mit dem Tattoo gesehen!”

Tags