das Hexenhaus
Schnauzer / Schnurrbärte
Schutt und Asche. Ich sehe die Kirche immer noch brennen, obwohl sie längst neu aufgebaut worden ist. Sie hat ihren alten Glanz verloren, ihren Zauber, ihren Geist. Den haben die Männer mit den Schnurrbärten ausgelöscht, als sie in unser Dorf gekommen sind, um uns alles zu nehmen, woran wir geglaubt haben und was uns Kraft und Zuversicht gegeben hat. Jetzt steht dort nur noch ein liebloses Gerüst, ein Gebäude, in dem wir beten und heiraten sollen. Ich beobachte den kleinen Joey dabei, wie er Blümchen vor die tote Tür legt. Er hat die Blumen zu einem Kranz geflochten. Die Männer werden das nicht gutheißen. Es wird sie an die Hexe erinnern. Die Hexe, die in den Flammen ihr Ende gefunden hat.
weben
Seit einigen Tagen tauchen Püppchen in unserem Wald auf. Sie hängen wie kleine Galgenmännchen von den Ästen und beunruhigen die Dorfbewohner. Ich habe Joey eine mitgenommen. Ihm ist egal, dass sie gruselig aussehen. Er liebt es mit dem Püppchen zu spielen und ihr Kleider anzuziehen, die er ihr aus kleinen Stofffetzen zusammengebastelt hat. Ich frage mich, wer die Puppen gemacht hat und woher sie kommen. Keiner will etwas gesehen oder bemerkt haben. Die Männer mit den Schnurrbärten werden allmählich nervös. Sie halten nun immer öfters Versammlungen ab, manchmal sogar mehrmals an einem Tag. Gudrun meint, sie haben angefangen, die Leute aus dem Dorf in das schwarze Haus zu holen. Bisher ist keiner wieder herausgekommen. Ich frage mich, was sie dort drin mit uns machen und wann ich an der Reihe bin.
Die Spinnen weben ihr Netz langsam.
Krone
Joey ist unser kleiner Prinz, unser König. Sein Püppchen trägt seit heute ein Krönchen, passend zu ihrem schönen neuen Kleidchen, dass ich ihr aus Garn gestrickt habe. Er hat mir verraten, dass er eines Tages dieses Püppchen zu seiner Frau nehmen wird. Er hat nicht gesprochen, er hat die Geschichte in den Sand gemalt. Ich bin ihm bis zur Kirche gefolgt. Ich sehe den Ascheregen immer noch. Ich kann diese Bilder und die Geräusche einfach nicht vergessen. Das Rieseln von Russ. Der Schrei der Hexe. Ich glaube, sie hat unser Dorf verflucht und wir werden schon bald für unsere Verfehlungen büßen müssen. Die Püppchen im Wald haben nun Augen.
trüb
Gudrun und ich haben heute versucht, aus unserem Teesatz die Zukunft zu lesen. Wir sind in den Wald gegangen und haben die Wurzeln der Bäume ausgebuddelt, an deren Äste wir ein Galgenmännchen entdeckt haben. Daraus haben wir unseren Tee gekocht. Das Wasser ist zu einer zähflüssigen, trüben Brühe geworden und hat entsetzlich bitter geschmeckt. Es ist mehr eine Qual als ein Genuss gewesen, den Sud zu trinken. Dennoch haben wir versucht, uns zu entspannen und an unsere Fragen zu denken, während wir getrunken haben. Anschließend haben wir unsere Tassen kopfüber auf eine Untertasse gestülpt. Wir konnten die Muster in unseren Tassen jedoch nicht deuten und die Männer mit den Schnurrbärten verbieten uns, einen Blick in die Bibliothek zu werfen. Das wäre Hexenwerk und anständige Frauen halten sich vor solchen Praktiken und Büchern fern.
Reh
Ich habe Joey erwischt, wie er mit einem Stöckchen in einem Kadaver herumgestochert hat, um den ausgehöhlten Bauch des Tieres mit Blumen zu füllen. Das Reh ist noch nicht lange tot gewesen. Ich kann nicht sagen, woran es gestorben ist und wer es vor der toten Tür abgelegt hat. Früher haben wir der Erde zurückgegeben, was sie uns gegeben hat. Wir haben das Opfer geehrt und unseren Göttern dargeboten. Ich fühle mich schlecht, dass ich Joey für seine Tat gerügt habe. Er sollte keine Angst vor dem Tod haben und seine Neugier sollte keine Strafe nach sich ziehen. Die Männer mit den Schnurrbärten sehen nicht gerne, wenn wir unsere Kleinsten mit unseren alten Bräuchen bekannt machen. Wir haben das Reh liegen gelassen und jetzt kreisen die Fliegen um es. Wie soll es nur weitergehen?
durchbohren/stechen
Die Männer mit den Schnurrbärten haben den ersten von uns gehängt, nachdem sie sein Herz mit einer Art Eisenspeer durchbohrt haben. Er hängt neben dem Dorfbrunnen und soll als Mahnmal dienen. Wer sich gegen die Männer mit den Schnurrbärten richtet, wird gerichtet, hat der eine gesagt, bevor er die Schlinge um den Hals des Waldhüters gelegt hat. Gudrun meint, die Männer mit den Schnurrbärten hätten ihn der Lüge bezichtigt, weil er abgestritten habe, etwas über die Püppchen im Wald zu wissen. Gudrun weiss immer mehr als alle anderen und manchmal macht mir das Angst. Sympathisiert sie mit unserem Feind und ist es mir gestattet, die Männer mit den Schnurrbärten als unseren Feind zu sehen?
Seestern
Joey und ich sind heute beim Bach gewesen und haben einen toten Seestern gefunden. Das ist seltsam. Ich glaube mich daran erinnern zu können, dass Seesterne Meerestiere sind und im Salzwasser leben und nicht in Bächen. Ob ihn jemand in unseren Bach geworfen hat und wenn ja, warum sollte jemand so etwas tun? Joey hat den Seestern nach unserem Ritus vor unsere Kirche gelegt. Das Reh ist mittlerweile entsorgt worden. Ich habe es nicht über das Herz gebracht, Joey zu verbieten, den Seestern zu opfern. Er ist eine Besonderheit. Wir haben ihn mit Salz eingerieben und über einem kleinen Feuer versiegelt. Dazu haben wir Lieder gesungen und unseren Göttern gehuldigt. Den Seestern wie Müll wegzuwerfen, hat sich nicht richtig angefühlt. Ich hoffe, niemand hat uns dabei gesehen.
rücksichtslos
Die Männer mit den Schnurrbärten werden immer rücksichtsloser. Sie sind mit Fackeln in den Wald hinein und haben alle Galgenmännchen angezündet. Der Wald brennt und wir stehen versammelt vor unserer Kirche und denken an den Tag zurück, als sie das gleiche mit ihr gemacht haben. Mögen unsere Götter den Brand löschen und uns den Regen schicken. Am Himmel sehe ich schon die ersten Wolken und aus der Ferne ist Donnergrollen zu hören. Die Männer mit den Schnurrbärten sind nicht allmächtig, unsere Götter jedoch schon.
Ich habe meine Augen nach Gudrun Ausschau halten lassen, habe sie aber in der Menge nicht ausmachen können. Joey hat meine Hand ganz festgedrückt. Sein Püppchen ist nun das Einzige, was noch übriggeblieben ist. Seine Königin, die uns hoffentlich irgendwann retten wird. Ist es dümmlich, gar schändlich von mir, an den Zauber einer kleinen Stoffpuppe zu glauben?
Der Seestern ist verschwunden. Irgendjemand hat ihn entfernt.
schwer
Es fällt mir immer schwerer, keinen Groll zu empfinden. Es wird mit jedem Tag schlimmer. Unser geliebter grüner Wald erinnert nun mehr an einen Scheiterhaufen, dem wir alle zum Opfer gefallen sind. Es ist nicht mehr viel übriggeblieben, nur einsame, kahle Stämme ohne Blätter, die schwarzen Arme von sich strecken und stumm ihr Leid klagen. Das ist ein Fluch. Die Götter haben uns verlassen. Die Männer mit den Schnurrbärten halten viele von uns im schwarzen Haus fest. Ich denke, sie haben Gudrun auch geholt, denn seit dem großen Brand ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Als hätte der Teufel sie zu sich genommen, weil sie ihren Mund nicht halten kann. Sie ist töricht. Wahrscheinlich wird sie nun für ihr Lästermaul büßen müssen. Geschieht ihr recht. Irgendjemand muss für das alles hier büßen, selbst wenn es meine Freundin Gudrun ist. Denn nur wer Buße tut, wird Heilung erfahren.
fegen/kehren
Des Nachts hört man, wie die Handlanger der Männer mit den Schnurrbärten die Böden fegen. Der Geruch von Asche liegt allgegenwärtig in der Luft, als würde der Wald noch brennen. Er hat sich in unsere Nasen gebrannt und wird fortan in unseren Köpfen wohnen und unsere Gedanken verderben. Es regnet Russ vom Himmel. Wir atmen ihn ein und er schwärzt unsere Lungen. Die Älteren von uns husten und keuchen, die Jüngeren werden vermehrt krank. Ist das eine Seuche oder die Strafe für das Sterben unserer Bäume?
Auch Schreie sind zu hören. Es sind die Schreie von Frauen und sie kommen aus dem schwarzen Haus. Irgendwann werden sie mich auch holen. Ich spüre es. Ich mache mir Sorgen um Joey. Er ist doch noch so klein.
stechen
Da ist ein Stechen in meiner Brust jedes Mal, wenn ich einen Atemzug nehme. Ich versuche mir vor Joey nichts anmerken zu lassen. Er würde sich Sorgen und sich auf die Suche nach Heilkräutern machen. Es ist besser, wenn er dort draußen nicht alleine herumstreift. Die Männer mit den Schnurrbärten sind unberechenbar geworden. Sie toben und wüten und schlagen um sich. Beinahe als wären sie besessen von was oder irgendwem. Hat sie vielleicht eine Hexe verzaubert? Stehen sie unter einem Bann und was passiert mit uns, wenn jeder einzelne von ihnen seinen Verstand komplett verloren hat?
geschreddert / zerkleinern
Die Galgenmännchen sind wieder aufgetaucht! Sie hängen an den ausgebrannten Ästen der toten Bäume wie unheilvolle Boten. Ich bin mir fast sicher, dass niemand aus unserem Dorf sie angebracht hat, denn nur ein verwirrter Geist würde sich sowas noch trauen. Der Wald bietet keinen Schutz mehr. Die Handlanger der Männer mit den Schnurrbärten streifen des Tages und des Nachts durch unser Dorf und unsere Felder und überwachen uns. Sie hätten den Übeltäter ertappt, wäre er in unseren Reihen.
Dennoch ist das Misstrauen groß, so groß, dass die Männer mit den Schnurrbärten angedroht haben, für jede Puppe, die zukünftig angebracht wird, ein jeder von uns, um eine Gliedmaße zu zerkleinern. Das ist doch Wahnsinn. Wir müssen sie aufhalten. Wir müssen uns endlich wehren!
trinken
Ich wurde heute von einem der Handlanger zur Rede gestellt, warum ich mich an den Wurzeln der verdorrten Bäume vergehe. Sie sind zu dritt gewesen. Ich habe ihnen versichert, dass ich die Wurzeln für Tee brauche und habe ihnen angeboten, ihn zu kosten, sobald ich ihn fertig gebraut habe. Sie haben mich als Hexe beschimpft und mich vor Joey geschlagen. Als ich am Boden gelegen habe, haben sie mich getreten, bis Blut den Boden getränkt hat. Joey hat geschrien. Ich habe ihn noch nie schreien gehört. Ich habe ihn für stumm gehalten, doch ich habe mich getäuscht. Sie haben irgendetwas in ihm erweckt. Wenn ich jetzt in sein Gesicht gucke, sehe ich nicht mehr einen Jungen vor mir: Er ist nun ein anderer. Das Leuchten ist aus seinen Augen verschwunden und sein Mund lächelt nicht mehr. Das Lachen haben sie ihm genommen.
Stamm
Es ist nun verboten, in den Wald zu gehen. Irgendjemand hat seltsame Zeichen in die Rinde der dicken Stämme der verbliebenen Bäume geritzt. Die Männer mit den Schnurrbärten halten diese Schnitzereien für Teufelswerk. Ich wünschte, sie würden uns erlauben, einen Blick in die Bücher zu werfen. Sollte wirklich irgendeine Macht hinter uns her sein, müssen wir uns wappnen. Böse Geister können ferngehalten werden. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter einmal zu mir gesagt hat, ein Affe könne die Dämonen fernhalten. Wir haben nicht viel, doch ich habe einige aus unserem Dorf überreden können, aus Papier kleine Affen zu falten. Wir haben sie um unsere Kirche herum verteilt. Hoffentlich halten sie das, was uns heimsucht, auf. Möge irgendein Gott Erbarmen zeigen.
ragged / zottig, zerlumpt
Einer der Dorfbewohner behauptet, in der Nacht eine zerlumpte Gestalt gesehen zu haben. Sie wäre aus dem Wald gekommen und auch wieder dorthin verschwunden. Ob er sich diese Gestalt nur eingebildet hat? Keiner sonst habe sie umherstreifen gesehen. Auch nicht die Handlanger. Die Männer mit den Schnurrbärten haben eine Versammlung ausgerufen und den Mann vor aller Augen ausgepeitscht. Sein Blut hat unsere Gesichter benetzt. Die Grausamkeit der Männer mit den Schnurrbärten ist grenzenlos. Mittlerweile frage ich mich nicht mehr, was sie mit den Menschen machen, die sie zu sich ins schwarze Haus holen, nein, ich fürchte mich davor.
blunder / Fehler Schnitzer
Ich schäme mich für das, was ich Joey angetan habe. Ich schäme mich so sehr. Es ist ein Fehler gewesen, ihm sein Püppchen wegzunehmen. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich habe ihn doch nur beschützen wollen. Er hat sein Püppchen überall gesucht und ist in den Wald gegangen. Die Handlanger haben ihn gefunden. Sie haben nicht verstanden, dass der Junge nicht sprechen kann. Sie haben sich von ihm verhöhnt gefühlt und ihm Anstand eingeprügelt. Joey ist ein braves Kind. Er würde nie etwas Unrechtes tun. Ich habe seine Wunden mit warmen Wickeln versorgt. Es ist seltsam. Normalerweise brauchen solche Verletzungen eine Weile, um zu heilen. Vielleicht schwindet allmählich mein Verstand, doch ich werde das Verlangen nicht los, dem Jungen mehr Wunden zuzufügen, um zu sehen, ob diese genauso schnell verschwinden wie die anderen.
Ich kann Joey vorerst nicht mehr aus dem Haus lassen, sonst halten mich die anderen für eine Hexe.
ornate / aufwendig
Der Traum von letzter Nacht lässt mich nicht mehr los. Ich habe von meiner Mutter geträumt. Vor ihrem Tod hat sie hin und wieder Séancen abgehalten, um Kontakt mit den Geistern aufzubauen. "Die Geister sind uns wohlgesinnt", hat sie stets behauptet. Es ist nicht gerne gesehen, wenn man Kontakt zum Jenseits aufnimmt. Man kann Dämonen und andere übernatürliche Entitäten herbeirufen. Das ist gefährlich, besonders wenn sie nicht zurück gehen wollen. Um eine Séance durchzuführen, benötigt man einen Vermittler. Jemanden, der zwischen den Toten und den Lebenden als „Gesprächsrohr“ fungiert. So hat es meine Mutter genannt. Ich bin mir sicher, sie hat sich diesen Begriff nur ausgedacht. In meinem Traum habe ich meine Mutter bei einer ihrer Séancen beobachtet. Vielleicht ist es eine Erinnerung. Ich kann es nicht so genau sagen. Diese Séance ist aufwendiger als die anderen. Es sind nicht nur Kerzen aufgestellt worden, man hat den Geistern auch einen Körper als Gefäß angeboten. Ich habe nicht erkannt, wer die sechs Teilnehmer gewesen sind und wer von ihnen die Geister in sich aufgenommen hat. Sie haben alle Kutten getragen und ihre Gesichter verhüllt. Ob der Geist noch hier ist und sich geweigert hat zu gehen? Ich habe ein ungutes Gefühl, ich träume sonst nie und schon gar nicht, wache ich woanders wieder auf.
dealen /handeln
Einer der Dorfbewohner hat versucht, mit den Männern mit den Schnurrbärten zu verhandeln. Die Männer haben nur gelacht und ihre Bärte gewippt. „Sie werden nicht gehen“ - der Einzige, der gegangen ist, ist der einfältige Narr, den sie an einem der Bäume aufgehangen haben und nie wieder mehr zu uns zurückkehren wird. Die Krähen haben ihm bereits die Augen ausgepickt. Der Tod hat sich in unserem Dorf breit gemacht. Der Gestank der Fäule liegt in der Luft und macht uns das Herz und das Atmen schwer.
Wir werden immer weniger und das schwarze Haus füllt sich mehr und mehr. Bald wird keiner mehr von uns übrig sein.
arctic / Arktis arktisch
Die Kälte macht nicht nur mir zu schaffen. „Es ist arktisch“, hat einer der Älteren verlauten lassen und sobald der Schnee kommt, sind wir verloren. Unsere Bäuche leiden Hunger und unsere Gemüter sind erkaltet. Wir sind nur noch seelenlose Gestalten, die willenlos herum gescheucht werden, um den Männern mit den Schnurrbärten zu dienen. Ein Weib soll sich heute Nacht zu einem von ihnen legen und wir sind nur noch neunzehn an der Zahl.
Ich bin mit Joey zur Kirche gegangen und habe gebetet. Wie die Christen haben wir unsere Hände zu kleinen Pyramiden gefaltet und uns auf den Boden gekniet. Es ist Geschwistern untersagt, sich zu vermählen, dennoch hoffe ich, dass die Götter Erbarmen zeigen und es mir gestatten. Denn wenn mich Joey zu seiner Frau macht, könnte er meine Reinheit für sich bewahren und mich somit vor den Männern mit den Schnurrbärten schützen.
rivals / Rivalen
Einige der Dorfbewohner behaupten nun, die zerlumpte Gestalt gesehen zu haben, die herumgeistern soll. Es wird hinter vorgehaltenen Händen getuschelt. Unter anderem werden auch frevelhafte Behauptungen aufgestellt. Die Gestalt soll unser Retter sein, der Rivale, der uns aus den Klauen der Männer mit den Schnurrbärten befreien und über das Böse siegen wird. Doch sollten diejenigen solche Aussagen lieber für sich behalten, in Anbetracht, was mit dem Letzten geschehen ist, der laut über die Gestalt und deren Existenz gesprochen hat.
Auch andere Stimmen erheben sich, die behaupten, dass die Männer mit den Schnurrbärten die Reinigung all unserer Sünden sind.
blast / Explosion
Es ist schon wieder passiert. Unsere Kirche ist uns genommen worden. Diesmal ist sie nicht dem Feuer zum Opfer gefallen. Nein. Irgendjemand oder irgendetwas hat sie zerstört. Wir haben mitten in der Nacht ein Geräusch gehört. Eine Art Explosion. Ein dumpfer lauter Knall, der uns aus unseren Träumen gerissen und uns vor unsere Türen gezerrt hat. Dort, wo einst unsere Kirchen gestanden hat, ist nur noch dieses weiße Pulver übrig. Es liegt wie Schnee auf dem geweihten Boden und brennt wie Säure, wenn man es wagt, es anzufassen. Einer der Älteren behauptet, es könnte sich um die Sporen von Pilzen handeln, doch wie sollen Pilze unsere Kirche zu Fall gebracht haben? Pilze explodieren nicht und sie erzeugen auch keinen Knall. Vielleicht ist es die Erde. Vielleicht ist sie verflucht worden. Vielleicht sind wir aber auch alle verflucht.
Die Handlager der Männer mit den Schnurrbärten kehren und fegen nun auch tagsüber. Sie versuchen, das weiße Zeug von unseren Häusern fernzuhalten, aber es breitet sich immer weiter aus.
button / Knopf
Ohne Kirche wird es keine Vermählungen mehr geben. Ich zerbreche mir beinahe stündlich den Kopf darüber, wie ich es schaffe, meine Verschleppung weiterhin hinauszögern. Die Verzweiflung macht sich in mir breit wie eine Made, die nicht aufhört zu fressen. Die Gedanken werden von Tag zu Tag dunkler. Sie sind so schwarz, dass ich bald kein Licht mehr sehen kann. Vor Joey will ich mir nichts anmerken lassen. Ich habe Angst und weine heimlich.
Ich habe ihm heute erlaubt, das Haus zu verlassen und draußen ein wenig Sonne zu tanken. Die Wunden sind verheilt, doch keiner stellt Fragen. Vielmehr interessieren sich alle für das weiße Pulver. Es ist, als würden die anderen wie magisch davon angezogen werden. Die Berührung sorgt jedoch für Verbrennungen und derjenige, der es gewagt hat, sich eine Handvoll davon in den Rachen zu stopfen, lebt nicht mehr. Erst sind ihm die Augen aus den Höhlen gequollen und anschließend ist er tot umgefallen. Es ist, als hätte das Verschwinden unserer Kirche den allerletzten Knopf gelöst und den Wahnsinn vollkommen entfaltet.
firefly / Glühwürmchen
Das weiße Pulver leuchtet wie Glühwürmchen in der Nacht. Scharfe Zungen behaupten, es sei ein übernatürliches Phänomen. Das weiße Zeug würde von den Außerirdischen kommen, die es auf uns abgesehen haben und uns vernichten wollen. Haben sie alle den Glauben an unsere Götter verloren? Mittlerweile haben auch die Männer mit den Schnurrbärten aufgehört, es zu bekämpfen. Vielmehr konzentrieren sie sich darauf, das schwarze Haus mit noch mehr Leben zu füllen.
Selbst die zerlumpte Gestalt ist in Vergessenheit geraten, keiner will sie mehr gesehen haben und niemand spricht mehr über sie. Es ist, als hätte man sie aus unseren Köpfen gelöscht. Joey verhält sich immer seltsamer. Manchmal läuft er ohne ersichtlichen Grund rückwärts und wenn er sich unbeobachtet fühlt, murmelt er irgendwelche Phrasen vor sich hin. Ich verstehe die Sprache nicht und verstehe noch weniger, weshalb ich den Jungen all die Jahre für stumm gehalten und seine Stille kein einziges Mal hinterfragt habe. Ob es für ihn bloß keinen Grund gegeben hat, mit uns zu sprechen? Warum sonst sollte sich ein kleiner Junge dagegen wehren, Worte von sich zu geben?
rowdy / Radaubruder
Ich erkenne Joey gar nicht mehr wieder. Sein Benehmen ist rüpelhaft und unzumutbar in Anbetracht der Lage, in der wir uns befinden. Erst habe ich gesehen, wie er an das schwarze Haus gepinkelt hat, dann habe ich ihn dabei beobachtet, wie er seinen eigenen Urin vom Boden leckt. Das ist nicht mehr mein Joey, er ist wie von Sinnen. Wenn ich ihn auf seine Taten anspreche, wird er laut und ich bekomme ihn kaum gebändigt. Mittlerweile denke ich, dass seine Wesensveränderung mit dem Püppchen im Zusammenhang steht. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, wann er angefangen hat, sich zu verändern, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas in ihm erweckt worden ist. Über meine Vermutung zu sprechen, wäre vermutlich sein Todesurteil. Das kann und werde ich ihm nicht antun, auch wenn er mich immer öfter von sich wegstößt. Man kann niemandem mehr vertrauen. Freunde werden zu Feinden und die Männer mit den Schnurrbärten haben ihre Augen und Ohren überall.
inferno
Die Männer mit den Schnurrbärten haben ihren Handlangern befohlen, das weisse Pulver anzuzünden, so wie sie es mit unseren Bäumen gemacht haben. Ein weiteres Inferno überleben wir nicht. Unser Leben ist bereits wie die Hölle auf Erden. Die Handlanger haben den Befehl verweigert. Es ist das erste Mal, dass die Männer mit den Schnurrbärten ihren Willen nicht bekommen. Ein Fünkchen Hoffnung keimt auf. Die Frage ist nur, wie lange es sich gegen den Sturm, der in unseren Köpfen tobt, behaupten kann?
Einer der Handlanger wurde viergeteilt. Ein anderer läuft nun ohne Arme herum und bei einem weiteren fehlt ein Bein. Sie haben vorher schon abscheulich ausgesehen, jetzt erinnern sie mich an kleine, unförmige Kastanienmännchen, die zu vielen Kinderhänden zum Opfer gefallen sind.
Die Männer mit den Schnurrbärten spielen mit uns. Irgendwann wird sie das Spiel langweilen und was ist dann? Wir müssen aufhören mitzuspielen oder endlich anfangen, unsere eigenen Spielregeln aufzustellen. Was für ein Schicksal wird uns dann ereilen? Wir müssen uns entscheiden. Entweder wird das weisse Pulver uns wie Schnee unter sich begraben oder wir verenden wie die anderen schlussendlich im schwarzen Haus.
puzzling /puzzeln
Die Puzzleteile fügen sich so langsam zusammen. Ich habe Joeys Bett in der Nacht leer vorgefunden. Ein Impuls hat mich dazu verleitet, in sein Zimmer zu gehen und nach ihm zu sehen. Nicht nur mein Bruder hat gefehlt, sondern auch seine Tagesdecke. Wenn ich eins und eins richtig zusammenzähle, könnte es sein, dass ich herausgefunden habe, wer die zerlumpte Gestalt ist. Ob Joey schlafwandelt, oder was treibt ihn sonst dazu, in der Nacht umherzustreifen? Vielleicht sollte ich mich heimlich an seine Fersen heften und der Sache auf den Grund gehen, wäre da nicht die Angst, die jeden Zentimeter meines Körpers in Beschlag genommen hat. Ich möchte mir die Strafe gar nicht ausmalen, sollten die Männer mit den Schnurrbärten oder ihre Handlanger uns erwischen. Mir fehlen zu viele Teile, um so ein großes Risiko einzugehen. Außerdem weiss ich nicht, wie Joey darauf reagieren wird, dass ich das Geheimnis um die Gestalt gelüftet habe.
Zwiebel
Meine Mutter meinte immer, dass Menschen wie Zwiebeln sind. Sie bestehen aus verschiedenen Schichten und meistens ist es mit Tränen vergießen verbunden, um an den inneren Kern zu kommen. Zwiebeln haben sieben Schichten. Zumindest sind Sieben an der Zahl zählbar, wenn man die braune Schale entfernt und die dünnen Häutchen nicht dazu zählt. Wie viele Schichten Menschen haben, hat mir meine Mutter nie verraten, sie hat bloß gelächelt, als würde sie viel mehr wissen, als sie preisgeben möchte. Die Männer mit den Schnurrbärten haben klug gehandelt. Sie haben diejenige in die Flammen geworfen, die ihnen zum Verhängnis werden und sie hätte auslöschen können. Wissen ist gefährlich und eine unscheinbare Macht.
Meine Mutter ist nicht nur eine schlaue Frau gewesen, sondern auch eine risikofreudige. Sie hat die Gefahr geliebt. Wäre ich mehr so wie sie, hätte ich unlängst einen Weg gefunden, um in die Bibliothek zu gelangen. Mit Muskelkraft wird man die Männer mit den Schnurrbärten nicht bezwingen können, dafür sind sie zu mächtig und zu gewitzt. Man muss sie mit den eigenen Mitteln schlagen, einen wunden Punkt finden und diesen Schicht für Schicht offenlegen. Anders geht es nicht.
Heisst es nicht immer, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm? Wie die Mutter, so die Tochter? Ich werde meiner Aufgabe nicht gerecht, ich werde scheitern. Ich spüre es. Ich werde Joey nicht beschützen können. Ich kann mich nicht einmal selbst schützen. Dem Schicksal und den Männern mit den Schnurrbärten wird man nicht entkommen können. Das ist unmöglich.
Skeletal / Skelett /skelettartig
Ein Mensch ohne Schichten ist wie ein Skelett. Durchscheinbar und zerbrechlich und am Ende wird von uns allen nicht mehr übrigbleiben als Knochen. Wozu sich wehren, wenn dieser Umstand unvermeidbar ist?
Die Männer mit den Schnurrbärten haben die vorletzte Frau ins schwarze Haus geholt, seitdem ist es still geworden. Keiner traut sich mehr vor die Tür. Alle wissen, dass ich die Nächste bin. Ich halte die wissenden Blicke und die schreckverzerrten Gesichter nicht mehr aus. Der geweihte Ort ist entweiht. Die Bewohner sind bis auf Wenige ausgemerzt. Und Joey? Er ist nicht mehr zurückgekehrt. Sein Bett ist leer geblieben. Ich habe ihn überall gesucht. Ich bin sogar bis in den verbotenen Wald vorgerückt. Habe seinen Namen gerufen, die Götter angefleht. Er ist und bleibt verschwunden. “Der Dämon ist ausgetrieben worden”, flüstern die Stimmen, doch sie lügen allesamt. Joey ist kein Dämon. Joey ist unser Retter, unser König. Mein Bruder. Ein Unschuldslamm.
Es ist egal, was ich mache, was ich sage und wohin ich gehe. Ich bin die Nächste und keiner wird mir mehr was antun. Ich gehöre jetzt ihnen. Ich gehöre dem schwarzen Haus. Von dort gibt es kein Entrinnen, keine Wiederkehr. Sie werden mir meine Reinheit nehmen. Meinen Willen brechen. Mich zu einem Teil des Ganzen machen. Das weisse Pulver reicht mir nun bis zu den Knien. Ich wate durch es hindurch und begrüsse den Schmerz. Es ist wie ein Tanz auf Messers Schneide. Keiner kann mich mehr aufhalten. Ich werde in die Bibliothek gehen, koste es, was es wolle.
Lesson / Lektion
Ich habe meine Lektion gelernt. Die Männer mit den Schnurrbärten haben recht. Bei den Büchern handelt es sich um Hexenwerk. Ihre Seiten sind leer. Kein einziges Wort steht auf ihnen geschrieben. Sie sind wie ausradiert. Manche der Bücher zerfallen schon zu Staub. Mit ihnen all das Wissen, all die Erinnerungen. Sie werden verblassen wie unser Dorf, wie unsere Wälder, wie die Bewohner, wie der Glauben, wie unsere Bräuche und schlussendlich die Hoffnung. Oder ist das nur der Wahnsinn, der unter meiner Schädelrinde kitzelt und um Freilassung bittet?
Wir sind verloren. Wir sind alle verloren. Alles, was uns noch bleibt, uns an den Händen zu nehmen und zu tanzen.
Vacant/ frei
Rituale sollen uns von alten Themen, Belastungen und Gewohnheiten befreien, um Platz für einen Neuanfang zu schaffen. Manche davon beziehen sich auf die Austreibung von Geistern, die auf dem Glauben an Dämonen beruhen. Zeremonien markieren den Übergang in eine neue Lebensphase. Gebete sind eine verbale oder nonverbale rituelle oder freie Zuwendung an transzendente Wesen, an Gott oder Gottheiten. Räucherrituale können dazu dienen, sich von ungewollten Verstrickungen zu lösen und ein Gefühl der Freiheit zu erlangen.
Die Männer mit den Schnurrbärten haben mich in das schwarze Haus geholt und ich bin nun frei.
Award / vergeben
Amnesie beschreibt den Verlust des Gedächtnisses für persönliche Erlebnisse, öffentliche Ereignisse oder Informationen, trotz ansonsten normaler kognitiver Funktion. Die Ursachen können organisch sein, wie neurologische Zustände, oder psychogen, ausgelöst durch traumatische Erlebnisse.
Durch die Hypnose werden Instanzen im Gehirn, die für das Ich-Bewusstsein und für die Alltagsvernunft zuständig sind, sozusagen heruntergefahren. Der Therapeut nutzt diesen Zustand, um negative Verhaltensweisen durch positive zu ersetzen oder um traumatische Erlebnisse aufzuarbeiten.
“Ich zähle nun von eins bis fünf. Bei der Fünf bist du wieder im Hier und Jetzt. Im Hier und Jetzt. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Du bist im Hier und Jetzt. Du wachst langsam auf und du bist sicher”, höre ich die ruhige Stimme meines Therapeuten leise an meinem Ohr. Seine Haare streifen kurz mein Gesicht. Es kitzelt leicht. Ich spüre, wie sich ein dümmliches Lächeln auf meinem Mund bildet. Immerhin der funktioniert schon wieder. Meine Augen wollen noch nicht so richtig. Die Lider sind schwer wie Beton, als ich sie wie in Zeitlupe nach oben schieben will. Ich sehe nur verschwommen, will blinzeln, doch für dieses Unterfangen ist es zu früh. Geht nicht. Keine Chance.
“Wie fühlst du dich?”, werde ich gefragt.
Ich will antworten, will ich wirklich, aber bis auf doof grinsen ist nicht viel zu machen. “Alles gut, lass dir Zeit”, beruhigt mich mein Therapeut, der sich wie ein hautfarbener Fleck vor meiner Iris abbildet. Irgendwie so. Ich habe nun schon einige Sessions hinter mir, aber an das Gefühl nach der Trance kann ich mich nicht so richtig gewöhnen. Das ist immer anders. Seltsam. Wie wenn man aus einer Welt in eine andere gerissen wird. Man muss sich zuerst wieder daran gewöhnen, im eigenen Körper angekommen zu sein.
„Da bist du ja“, begrüßt mich mein Therapeut. „Da bin ich“, wiederhole ich in Gedanken und bin doch nicht vollständig da. Die Augenlider sind zwar offen, doch das Sehen funktioniert nur halb. Ich nehme Schemen und Schatten wahr. Mehr nicht. „Ich verstehe es immer noch nicht“, falle ich mit der Tür ins Haus. Mein Therapeut holt sein Notizbuch heraus. Zumindest hört es sich so an. Rascheln, das Umblättern einer Seite, die Kugelschreibermine, die herausgedrückt wird, das Kratzen von frischen Buchstaben auf Papier. „Was genau verstehst du nicht?“, hakt mein Therapeut nach.
Ich seufze und zweifle wie so oft an meinem Verstand. Oder an dem, was davon noch übrig ist. „Wie mir das alles helfen soll“, beantworte seine Frage. „Egal, wie oft sie mich in Hypnose versetzen, ich fühle diese Frau nicht. Das bin nicht ich. Ich kann mich absolut nicht mit ihr identifizieren“, maule ich frustriert und kann einfach nicht aufhören, meinen Therapeuten weiterhin zu siezen, obwohl er mir unlängst das Du angeboten hat. Irgendwie ist es komisch, seinen Therapeuten zu duzen. Besonders wenn sein Vorname so sonderbar ist, dass er eigentlich gar nicht echt sein kann, sondern frei erfunden klingt. Wahrscheinlich ist er mir aber deswegen hängen geblieben, wenngleich mir sonst für gewöhnlich alles entfällt. Seine Mutter hat ihm den Namen Indigo gegeben. Weil sie diese Farbe so sehr liebt. Ich finde sie auch schön, doch ich würde niemals mein Kind so nennen. Sollte ich je eines bekommen.
„Nun, was soll ich sagen? Diese Reisen in ein früheres oder ein anderes selbst, sind immer etwas knifflig und können für den Reisenden vorerst verwirrend, gar beängstigend sein“, blubbert mein Therapeut voller Elan los, völlig überzeugt von seiner Strategie. „Gerade bei Patienten mit Amnesie bietet sich Hypnose an, um eventuelle Blockaden zu lösen und Antworten zu finden“, schwadroniert er pfiffig weiter. „An was kannst du dich dieses Mal erinnern? Ich möchte es gerne aus deinem eigenen Mund hören, damit ich es mit meinen Eindrücken aus unserer heutigen Session abgleichen kann.“
„Keine Ahnung, was das bringen soll“, mucke ich unnötig rum, da ich mich sowieso nicht davor drücken. Ich nehme eine Bewegung wahr und wenn ich sie richtig deute, hat sich mein Therapeut gerade auf seinem Stuhl neu positioniert, er wirkt nun näher an mir dran und leicht vorgelehnt. „Zwei Menschen können das gleiche Ereignis völlig unterschiedlich wahrnehmen. So ist es auch mit unseren Sessions. Was ich empfinde, was du empfindest, wie wir es verarbeiten, erleben, was haften bleibt, was vielleicht verloren geht. Wir können unsere Eindrücke miteinander teilen und sie uns genauer anschauen und analysieren“, schwafelt mein Therapeut mich weiter zu. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte seine Begeisterung teilen. In mir sträubt sich alles dagegen, die ganze Session Revue passieren zu lassen.
„Na gut“, gebe ich klein bei und denke nach. Das Kopfweh setzt ein, dicht gefolgt von einem Flackern am Rande meines Sichtfeldes. „Ich bin in das schwarze Haus gegangen“, sage ich und merke, wie ich mit meinen Fingern rumspiele. Allein das schwarze Haus in meiner Erinnerung zu sehen, macht mich nervös. Ich weiß nicht genau weiß, warum das so ist. Schließlich bin ich nie selbst in diesem Haus gewesen, sondern irgendein früheres Ich aus einer anderen Zeit. Behauptet Indigo. Bei unserer ersten Session hat er mir das versucht zu erklären. Dass wir Menschen dazu neigen, immer wieder die gleiche Reise anzutreten, in der Hoffnung, das Muster irgendwann durchbrechen zu können und zu einem anderen „Ich“ und zu einem völlig neuen Selbst zu reifen.
„Wie hat es in dem schwarzen Haus ausgesehen? Kannst du es beschreiben?“, erkundigt sich mein Therapeut. Ich überlege und versuche mich krampfhaft daran zu erinnern. Doch egal wie sehr ich mich konzentriere, da ist nichts. Gar nichts. „Nur Schwärze“, spreche ich den Gedanken laut aus. Ich höre ein Rascheln, dicht gefolgt von einem Kritzeln. Eine Papierseite wird umgeblättert. Kurze Stille, dann ein Aufatmen.
„Was denkst du, ist in dem Haus passiert?“, bohrt Indigo weiter. „Ich denke, die haben mir dort drin etwas angetan, mich vielleicht viergeteilt oder so“, gebe ich trostlos von mir, weil ich nicht mehr als eine Vermutung von mir geben kann.
„Mit die meinst du die Männer mit den Schnurrbärten“, schlussfolgert Indigo richtig. Ich nicke nur, bin insgeheim stolz auf mich, dass ich meinen Therapeuten in meinem Kopf schon dreimal bei seinem Namen genannt habe. Mein Erfolgserlebnis wird durchbrochen von Papier, das in Schwingung versetzt wird. „Als du in die Bibliothek gegangen bist, hast du mir erzählt, dass die Bücher allesamt leere Seiten aufgewiesen haben, richtig?“, fragt mein Therapeut.
„Ja, richtig“, bestätige ich. „Sie sind zu Staub zerfallen“, füge ich hinzu.
„Die leeren Bücher könnten ein Sinnbild für deinen Gedächtnisverlust darstellen“, wirft Indigo seine These in den Raum. Ich nicke bloß. Mache dann doch noch ein „Mhm“, ehe ich mir auf die Unterlippe beiße und mühsam auf ihr herum kaue. „Ich habe eine Theorie und ich denke, wir sollten, nein, wir können auf dieser aufbauen“, schlägt Indigo in einem so zuversichtlichen Tonfall vor, als wäre er ein Freund und nicht mein Therapeut. Ich sage nichts. Also fährt Indigo fort. „Die Männer mit den Schnurrbärten haben dir verboten, die Bibliothek zu nutzen, sie haben das Wissen dort verteufelt, es sogar als Hexenwerk betitelt. Richtig?“, überfahrt mich mein Therapeut und macht ungeniert damit weiter, ohne meine Bestätigung seiner Aussage abzuwarten. „Projizieren wir dieses Erlebnis auf das Hier und Jetzt, bedeutet das, dass deine Erinnerung jemandem schaden oder gar zum Verhängnis werden könnte. Wer auch immer diese Blockade in deinem Kopf errichtet hat, hat dies getan, um sich selbst zu schützen oder aus der Affäre zu ziehen.“
Ich gebe wieder nur ein „Hm“ von mir. „Es muss sich um eine Gruppe von Menschen handeln“, wirft mein Therapeut nachdenklich ein, dann raschelt es wieder. „Eine Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Rängen. Die, die befehlen und die, die ausführen“, führt Indigo seine These weiter aus. „Oder was meinst du?“
„Das ist doch ein Schwachsinn“, murmle ich und drücke den Fingernagel vom Zeigefinger gegen das weiche Fleisch vom Daumen. „Und was ist mit dem Pulver?“, frage ich. „Das Zeug ist dort überall und die Männer finden es blöd.“
Nun ist Indigo an der Reihe und gibt ein „Hm“ von sich. „Es ist gut, dass du dich an das Pulver erinnerst“, lobt er mich und ich wette darauf, dass sein Gesicht in diesem Moment lächelt. „Es fällt dir leichter, dich an das zu erinnern, was dein anderes Ich erlebt hat. Das ist genau der Sinn und Zweck unserer gemeinsamen Reise. Es fühlt sich für dich so an, als hätte es jemand anderes erlebt als du. Das macht es einfacher für dich, darüber zu sprechen und dich damit auseinanderzusetzen. Es öffnet Tore, die vorher für dich fest verschlossen gewesen sind“, behauptet Indigo voller Zuversicht, dass wir des Rätsels Lösung nähergekommen sind. Ich merke nur, wie mir die Pumpe geht und meine Schweißdrüsen voll auffahren. Alles, was mein Therapeut von sich gibt, bringt meinen Körper dazu, schleunigst das Weite suchen zu wollen und ich weiß gar nicht so genau wieso. Ich kann das weder steuern noch richtig verstehen. Es ist, als hätte er auf Automatik umgestellt und angefangen ein Eigenleben zu entwickeln.
„Das weiße Pulver…“, greift Indigo den Faden wieder auf, um ihn dann direkt weiter zu spinnen. „Ich glaube, es handelt sich bei dem Pulver um Drogen. Genauer gesagt, Psychopharmaka.“
„Wie bitte?“, platzt es aus mir heraus. Ich nehme ein leichtes Zucken bei meinem Gegenüber wahr.
„Oder Weihwasser, aber das halte ich für ein bisschen weit hergeholt", erwidert mein Therapeut.
„Weihwasser“, wiederhole ich ungläubig. „Es ist nur eine Theorie“, rechtfertigt sich Indigo leicht säuerlich, als wäre ich ihm auf den Schlips getreten. Ich höre, wie er sein Buch zuschlägt und von seiner Sitzmöglichkeit aufsteht. Er geht ein paar Schritte in die eine Richtung, dann in die andere, dann bleibt er stehen und streckt die Arme von sich. „Reden wir über Joey.“
Ich schlucke automatisch. Oder systematisch. Psychosomatisch. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Meine Brust schwillt an. Die Härchen stellen sich auf. Auf ihn Joey reagiere ich irgendwie allergisch. Oder über. Keine Ahnung. Es fühlt sich jedenfalls unangenehm an. Belastend. Beängstigend. Als hätte man alle unangenehmen Gefühle in einen Topf gepackt und daraus eine Suppe gekocht, die man viel zu heiß herunterschlucken muss.
„Was ist mit ihm?“, frage ich dummblöd und so krächzig, dass meine Stimme mein Unwohlsein verrät. Indigo kommt ein bisschen näher. Bleibt vor mir stehen. Blickt auf mich herab. Zumindest glaube ich, dass er mich ansieht.
„Warum lässt er dich im Stich?“, schleudert mir Indigo entgegen. Die Frage trifft mich so unverhofft und hart, dass ich zum Schwanken komme. Die unsichtbare Kugel hat getroffen. Direkt in mein Herz und nun blutet es. Aus einem Impuls heraus fasse ich mir an die Brust. Drücke meine Handfläche gegen die schmerzende Stelle. Aua.
„Ihr habt eine enge Bindung und dennoch fühlst du dich allein, zurückgelassen, betrogen, weggestoßen. Da ist eine Wut in dir. Man könnte es vielleicht auch als Neid oder Eifersucht einordnen. Ja. Immer wieder stellt sich dir die Frage: warum ich? Warum denkst du, ist das so?“, stichelt Indigo weiter in der Wunde rum.
„Woher soll ich das denn wissen?“, blaffe ich ihn an. „Ich habe keinen Bruder“, brülle ich und werde so richtig laut und das ohne ersichtlichen Grund.
„Bist du dir sicher?“, treibt Indigo meine Wut auf die Spitze. Ich will aufstehen und gehen, doch ich bin wie festgefroren, obwohl es in mir innerlich brodelt. „Er spielt eine Schlüsselrolle in dem Stück“, meint mein Therapeut tollkühn.
„Das ist doch Blödsinn“, zische ich, darauf bedacht, dem Blödmann im Raum nicht an die Gurgel zu gehen und mich zurückzuhalten. Die Chance wäre ohnehin gering einen Treffer zu landen, dafür sind meine Augen schlichtweg zu schlecht. Die taugen zu nichts. Zu überhaupt rein gar nichts. Nicht mal gut weinen kann man mit ihnen. So trocken wie die Sahara oder als hätte sich das weiße Pulver in meinen Sehnerv gefressen. Ich blinzle irritiert und komme kurz aus der Fassung. Was ist, wenn…
„Oh, du hast gerade einen Geistesblitz, stimmt’s?“, ärgert mich Indigo, dem wohl absolut keine Regung von mir entgeht.
Widerwillig schüttle ich den Kopf und recke anschließend angriffslustig das Kinn. „Da ist nur Matschepampe in meinem Hirn“, behaupte ich eiskalt. „Sinnlose, nutzlose Matschepampe, die dort nicht hingehört und mir bestimmt eingepflanzt worden ist.“
„So denkst du von mir?“, Indigos Stimme klingt leicht pikiert. „Ich versuche dir zu helfen, meine Liebe.“
Ich merke, wie meine Kinnlade eine Etage nach unten sackt, als mein Therapeut die letzten beiden Worte ausspricht. So hat er mich noch nie genannt und sowas geht ganz eindeutig zu weit. Diese Ebene ist nicht mehr professionell. Das ist übergriffig. Ich bin nicht seine Liebe. Ich bin überhaupt niemandes Liebe. Ich bin…
„Ich möchte jetzt gehen!“, fordere ich und kämpfe auf verlorenem Posten, denn Indigo rückt mir noch mehr auf die Pelle, statt von mir zurück zu weichen. Dann ist er mir ganz nah, so nah, dass mir seine Nähe unangenehm ist. Ich spüre seinen warmen Atem auf meiner Nase und rieche… Rauch. Der Geruch von verbranntem Holz breitet sich aus. Ich will schon losschreien, sagen, dass es brennt, da kommt mir mein Therapeut zuvor und hält mir den Mund zu. Seine Hand fühlt sich rau auf meinen Lippen an. Arbeiterhände schießt es mir durch den Schädel und dringt vor bis in mein Gehirn, verankert sich dort und bringt mich zum Grübeln.
„Weißt du, was mein Name bedeutet?“, flüstert es an meinem Ohr. Instinktiv will ich zurückweichen, aber ich gebe bloß ein gedämpftes „Mh-mh“ von mir.
Indigos Grinsen streift meine Wange, dann höre ich es. Ein Kichern, als er sich zurück auf seinen Stuhl fallen lässt und ich wieder Luft holen kann.
„Die Farbe Indigo hilft den Geist zu öffnen und ein tieferes Bewusstsein zu erlangen. Ich helfe dir dich zu konzentrieren, über das Physische hinauszublicken und das Unsichtbare wahrzunehmen. Ich bringe Leben in deine verworrenen Träume und stelle die Verbindung zwischen deinem Körper und deinem Geist wieder her“, klärt mich mein Therapeut in einem völlig nüchternen Ton auf. Nun frage ich mich, wer von uns beiden hier eine Therapie braucht. Schlagartig fällt der Groschen. Und ich sehe klar. Klarer denn je, obwohl mein Suchfeld nach wie vor getrübt ist und bleibt.
„Ich bin im schwarzen Haus“, schießt es aus mir heraus. Indigo klatscht begeistert in seine Hände. „Bravo! Endlich lässt du dich auf die Wahrheit ein“, jubelt er los. „Nun musst du dich nur noch von der Lüge befreien.“
„Welche Lüge?“, erwidere ich dummblöd.
„Was ist mit den Püppchen?“, lenkt mein Therapeut von der eigentlichen Frage ab. „Kannst du dich an die Püppchen erinnern?“
„Ja, die, die plötzlich im Wald aufgetaucht sind“, sage ich und spiele vorerst sein Spielchen mit. Ein Stich fährt mir durch die Schädelrinde und ich zucke zusammen. Die Kopfschmerzen werden schlimmer. Irgendwann breche ich noch zusammen, wenn das so weitergeht. „Können wir vielleicht eine Pause einlegen?“, flehe ich. In meiner Verzweiflung drücke ich meine Handfläche fest gegen die Stirn. Doch auch das bringt keine Linderung.
„Was denkst du, wer sie dort aufgehängt hat?“, hakt Indigo nach und ignoriert meine Bitte komplett.
„Die Hexe“, murmle ich leidend.
„Und wer ist die Hexe?“
„Ich weiß es nicht.“
„Du weißt es.“
Gerade als ich meinem Therapeuten ein weiteres „Ich weiß es nicht“ entgegen spucken will, kommt er mir zuvor und kotzt mir die nächste Frage ins Gesicht. „Wer spielt mit Puppen?“
Ich bin kurz überrumpelt. Denke nach. Ziehe die Stirn in Falten und komme mir leicht verarscht vor. Meint der die Frage nun wirklich ernst oder veräppelt er mich?
„Kinder“, antworte ich zögerlich. Wieder ernte ich ein Klatschen, das ich sogleich unterbreche. „Kinder hängen aber keine Püppchen an Bäumen auf. Die sind doch dafür viel zu klein. Außerdem ergibt das überhaupt keinen Sinn. Warum sollten Kinder Püppchen im Wald aufhängen?“
„Was ergibt für dich denn mehr Sinn?“, nervt Indigo weiter.
Ich überlege und komme, egal wie viel ich grübele, nicht auf einen grünen Zweig, also zucke ich ahnungslos mit den Schultern.
„An was kannst du dich denn noch erinnern? Gehe in dich und denke nach“, fordert mich mein Therapeut auf. Alles sträubt sich in mir dagegen, trotzdem füge ich mich und tue, was er von mir verlangt.
„An einen Seestern“, sage ich.
„Wo hast du ihn gefunden?“, bohrt Indigo nach.
„Ich glaube in einem Bach.“
„Weißt du, was für eine Bedeutung einem Seestern nachgesagt wird?“
Ich schüttle den Kopf.
„Ein Seestern steht für Hoffnung. Ihm wird nachgesagt, ein Krafttier zu sein. Er soll bei der Erforschung der eigenen Gefühle helfen und ein Gefühl der Sicherheit vermitteln“, schmiert mir Indigo seinen spirituellen Unsinn unter die Nase. Ich gebe bloß ein leicht irritiertes „Okay?“ von mir. Mehr fällt mir dazu schlichtweg nicht ein.
„Was hast du noch gefunden?“
„Ein totes Reh.“
„Ein Reh steht oft für Sanftmut, Anmut, Intuition und Verletzlichkeit. Aber auch für die Balance zwischen Verletzlichkeit und Stärke. Dein Reh hingegen hast du tot vorgefunden. Das könnte bedeuten, dass die Balance zwischen Stärke und Verletzlichkeit aus den Fugen geraten ist oder auch, dass ein Stärkerer die Verletzlichkeit eines Schwächeren ausgenutzt hat.“
Ich sehe das Gesicht von meinem Therapeuten zwar nicht deutlich vor mir und kann seine Mimik nicht genau erkennen, aber irgendetwas Indigos Tonfall gibt mir klar zu verstehen, dass er mehr zu wissen scheint, als er bisher durchdringen lassen hat. Und ich glaube, dass sein Mund dabei lächelt und auch, dass dieses Lächeln kein nettes Lächeln ist.
„Auf wen veranstaltet man eine Hexenjagd?“, führt Indigo seinen Fragenmarathon fort.
„Auf jemanden, der was Schlimmes getan hat?“, entgegne ich mich einer Gegenfrage.
„Du meinst ein Verbrecher?“
„Sowas in der Art?“
„Verstehe. Also hat die Hexe etwas Schlimmes getan“, fasst mein Therapeut zusammen. Ich blinzle und verstehe immer noch nicht, was das Ganze bezwecken soll. Die Hypnose, die Therapie, das Gespräch.
„Du musst aufhören dagegen anzukämpfen“, klugscheisst Indigo. „Die Reise wird hier und heute enden, danach bist du auf dich allein gestellt.“
„Ich weiß doch nicht einmal, wogegen ich ankämpfe!“, maule ich und merke, wie Panik in mir aufsteigt. Ich will nicht allein sein. Nicht allein in diesem schwarzen Haus! Er kann mich doch nicht im Stich lassen! Ich brauche ihn, sonst komme ich hier nie wieder heraus!
„Du musst dich deinen Dämonen stellen, denn die Götter haben dich verlassen“, schwafelt Indigo ohne Rücksicht auf mich zu nehmen
drauf los. „Ich kann dir nicht mehr helfen. Du willst dich nicht öffnen. Du willst es nicht akzeptieren. Willst nicht einmal hinsehen. Denn du kannst es nicht wahrhaben. Verschließt nach wie vor die Augen davor!“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, verdammt!“
„Meine Liebe, ich glaube, du hast etwas sehr Schlimmes getan. Und du hast versucht, es zu verdrängen, es sogar verschwinden zu lassen. Du hast falsche Fährten gelegt, nach einem Schuldigen gesucht. Wolltest vergessen. Deine Tat ausradieren. Doch so einfach ist es nicht. Einfach ist es nie, es wird dich nicht mehr loslassen. Es wird dich verfolgen. Denn du kannst nicht Ungeschehen machen, was passiert ist. Ich stelle dich nun vor die Wahl. Willst du im schwarzen Haus bleiben oder gehst du mit mir durch die weiße Tür und fängst an, dir selbst zu vergeben und ein neues Ich zu erschaffen?“